Staub wirbelt auf vor dem Südportal des Ludwigsburger Barockschlosses. Kurz nach der Kurve geht noch während der Fahrt an der schwarzen Limousine die Beifahrertüre auf. Es ist bald 18 Uhr. Ein Mann in dunklem Anzug springt heraus, eilt zur Freitreppe und kündigt die Ankunft des Staatsgastes an. Er werde sich allerdings verspäten.
Eigentlich wollte er um 17.20 Uhr in Ludwigsburg sein. Doch die Tour des französischen Präsidenten Charles de Gaulle durch Stuttgart dauert dreimal länger als geplant. Die Stimmung ist euphorisch. Es herrscht strahlender Sonnenschein, nach vier verregneten Tagen während seines Deutschlandbesuchs. Menschen schwenken baden-württembergische und französische Fähnchen. Überall Applaus und Sprechchöre:
„Vive la France“ – „Vive de Gaulle“.
Die Leute steigen über Absperrungen, für die Staatskarossen gibt es manchmal kaum ein Durchkommen.
Die erste offizielle Visite des Staatschefs bereitet den Sicherheitskräften einiges Kopfzerbrechen. Fünf Landespolizeien, die Kräfte der Bereitschaftspolizei zwischen Isar und Elbe sowie Beamte der Schutzpolizei in einem halben Dutzend westdeutscher Großstädte sind vom 4. bis 9. September im Großeinsatz.
„Ich bin froh, wenn der Mann heil wieder raus ist“,
meint Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Franz Meyers. Die Stationen, den Zeitplan, jedes Detail der Reise bestimmt de Gaulle selbst. Pausen lehnt er ab. Er wolle ja keine Erholungsreise machen. Dieser Mann hat eine Mission.
Empfang in der Villa Reitzenstein
Nach dem Empfang in der Villa Reitzenstein durch Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger am Nachmittag fährt er im offenen Wagen stehend durch Stuttgarts Straßen, lässt mehrmals anhalten, steigt aus, schüttelt Hände, wechselt ein paar Worte. So auch auf den letzten Metern. Die B 27 zum Barockschloss in Ludwigsburg ist von jubelnden Menschen gesäumt. Die Kolonne mit 13 Staatskarossen, drei Sicherungsfahrzeugen und der Motorrad-Ehreneskorte stoppt dreimal. De Gaulle badet in der Menge.
Dabei wurde erst kurze Zeit zuvor ein Anschlag auf ihn verübt – der vierte innerhalb eines Jahres. De Gaulle war wegen seiner Algerienpolitik ins Visier von Ultrarechten geraten und hatte auch den Hass von Teilen des Militärs auf sich gezogen.
Die Kolonne erreicht an jenem 9. September schließlich die Schorndorfer Straße und bewegt sich Richtung Osttor. Der TV-Moderator Hans-Joachim Friedrichs schildert die sonntägliche Bilderbuchkulisse. Das Barockschloss mit den gehissten Fahnen und dem prächtigen Blumenschmuck liegt im Abendlicht. Die motorisierte Polizeieskorte in V-Form geleitet die Mercedes-Limousinen am Rand des Südgartens die Allee hinunter, biegt vor die Freitreppe. Die Sicherheitskräfte halten sich im Hintergrund.
Denunziert und ermordet
Am Abend des 22. August verließen zwei ungepanzerte Typ Citroën DS von zwei Motorrädern begleitet den Élysée-Palast. In einem der Wagen saßen de Gaulle, seine Frau und sein Schwiegersohn. Auf dem Weg zu einem Flughafen südlich von Paris eröffneten aus einem Hinterhalt Terroristen das Feuer auf de Gaulles Auto, an dem später 14 Einschüsse gezählt wurden. Eine Kugel soll nur drei Zentimeter neben dem Kopf des Präsidenten eingeschlagen sein. Trotz zerschossener Vorderreifen behielt der Fahrer die Kontrolle über die legendäre, hydropneumatische Karosse und erreichte den Flugplatz. De Gaulle kommentierte lapidar:
„Diesmal war es knapp.“
Die Kronleuchter werden höher gehängt
Im Ludwigsburger Schloss ist jeder Winkel mit Spürhunden durchsucht worden. Zwei Tage vor dem Besuch darf außer ein paar Offiziellen und der Polizei niemand mehr hinein. Alles wird akribisch geplant. Weil der General mit seiner hohen Schirmmütze mehr als zwei Meter misst, werden die Kronleuchter 15 Zentimeter höher gehängt.
„Als Bundeskanzler Konrad Adenauer, der eine halbe Stunde vor de Gaulle da war, in den Schlosshof blickte, bekam er einen Wutanfall“,
sagt Ulrich Krüger, der ehemalige Schlossverwalter.
„Watt denn, wat soll denn das, der Hof is ja fast leer und draußen stehen Menschenmassen“,
soll Adenauer gesagt haben. Er lässt den obersten Polizeichef kommen und ordnet an, die Tore zu öffnen. Dafür übernehme er die Verantwortung. Innerhalb kürzester Zeit ist der Schlosshof geflutet und mit fast 15 000 Menschen brechend voll.
Im Konvoi vor de Gaulle sind Bundespräsident Lübke und dessen Gattin eingetroffen. Die beiden stehen mit Adenauer zum Empfang des Staatsgastes bereit. Aus der Limousine mit dem Nummernschild S-LV 122 klettert zuerst der Sohn des Generals, Korvettenkapitän Philippe de Gaulle, danach der französische Staatschef, gefolgt von Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger.
Der 71 Jahre alte Hüne, der für sich in Anspruch nimmt, Frankreich zu verkörpern, wirkt müde. Ein kräfteraubendes Mammutprogramm liegt hinter ihm. Im Élysée-Palast bereiten sie schon den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vor, der ein paar Monate später auf dem Tisch liegen wird. De Gaulle will die Deutschen vollends von seinem Vorhaben einer französisch-deutschen Union überzeugen. Er möchte den Einfluss Amerikas zurückdrängen. Frankreich, la Grande Nation, soll in Europa die erste Geige spielen, und die Bundesrepublik soll der Juniorpartner werden. De Gaulle wird die Deutschen loben, aufrichten, an ihre Schaffenskraft und ihren Erfindergeist erinnern. An die Zukunftsaufgaben. Und wer, wenn nicht die Jugend, wird diese meistern können?
Für Frank Baasner, den Leiter des Deutsch-Französischen Instituts (dfi), war das de Gaulles Kalkül. Ein strategisches Manöver, nachdem der Aufbau eines militärischen Europabundes 1954 gescheitert war.
Der Streit um Stuttgart
Der Besuch sei für den Präsidenten aber auch eine „Herzensangelegenheit“ gewesen, sagt Baasner. Und de Gaulle legt sich mächtig ins Zeug. Zuerst in Bonn eine flammende Rede auf Deutsch. Dann an Bord der MS Deutschland nach Duisburg. Vor 4000 Stahlarbeitern nennt er seine Zuhörer
„meine Herren“.
Es gibt Beifallsstürme. Danach Hamburg. Wieder Jubel. Schließlich München, wo er an diesem Sonntagmorgen um 9 Uhr noch bei einer Messe mit Kardinal Höpfner war und um 10.30 Uhr ins Flugzeug nach Echterdingen gestiegen ist. Dort begrüßt ihn Kiesinger. Anschließend im Hubschrauber nach Münsingen zu den französischen Streitkräften. Mittagessen, dann im Auto zu Kiesingers Amtsdomizil.
Vor Journalisten überrascht der General mit einem kleinen Ausflug in die Ahnengalerie. Sein Ur-Ur-Großvater, Louis-Philippe Kolb, sei 1761 in Grötzingen geboren, berichtet er über seine deutschen Wurzeln.
In Ludwigsburg dann der letzte Teil seiner Charmeoffensive: die Rede an die deutsche Jugend. De Gaulle beglückwünscht seine Zuhörer,
„junge Deutsche zu sein“, „Kinder eines großen Volkes“,
die nun das Leben und die Zukunft gestalten könnten – auch wenn das deutsche Volk Fehler begangen habe, wie de Gaulle vorsichtig formuliert.
De Gaulle reicht dem „Erbfeind“ die Hand
Charles de Gaulle reicht dem deutschen „Erbfeind“ nicht nur die Hand zur Versöhnung. Er überrascht das staunende Publikum mit seiner kühn wirkenden Vision eines vereinten Europas. Die Deutschen so zu umgarnen sei „ehrlich“ gewesen, meint Frank Baasner. De Gaulle habe die Deutschen tatsächlich bewundert. Für ihre Leidensfähigkeit und Wiederaufbauleistung nach dem Krieg. Für ihre lange Tradition der Denker und Dichter.
Dabei hatten ihn schreckliche Erlebnisse geprägt. Am nachhaltigsten vielleicht im Jahr 1916 die deutsche Kriegsgefangenschaft. Fünfmal versuchte er zu flüchten. Jedes Mal wurde er wieder festgenommen und unter erschwerten Bedingungen inhaftiert. Während dieser Zeit, so ist überliefert, vervollständigte er seine deutschen Sprachkenntnisse, die er zuvor auf der Militärschule im bretonischen Saint-Cyr erworben hatte.
Charles de Gaulle spricht 13 Minuten im Ludwigsburger Schlosshof. Er verströmt sein Charisma, seinen Charme. Seine Ansprache hat er akribisch vorbereitet. Er redet frei. Zwischen den Ovationen („Vive de Gaulle“) hat er nur einmal einen kleinen Hänger, sein Dolmetscher hilft ihm.
„Das war ein Riesenereignis, das ich mein Leben lang nicht vergessen werde“,
sagt Hermann Aigner, damals 30. Der einstige Buchhändler und Ludwigsburger Stadt- und Kreisrat der Freien Wähler spricht für viele Zeitzeugen, die de Gaulles Rede gebannt verfolgten und denen die deutsch-französische Freundschaft am Herzen liegt.
Vier Schreibtischtäter aus Baden-Württemberg
Auf der politischen Bühne gilt die Sympathie des französischen Quasimonarchen besonders dem 17 Jahre älteren Konrad Adenauer. Er lädt ihn mehrmals nach Frankreich ein. 1958 auch auf seinen Landsitz nach Colombey les Deux Églises, wo sich die beiden näherkommen. Historiker werden die beiden Konservativen später als kongeniale Partner bezeichnen – keine 20 Jahre nachdem General de Gaulle im Zweiten Weltkrieg zum Widerstand gegen Hitler aufgerufen und während der Kollaboration seine Landsleute an ihre Freiheit und Würde erinnert hatte. Ihre gegenseitige Zuneigung bezeugen de Gaulle und Adenauer im Juli 1962 bei einem Versöhnungsgottesdienst in der Kathedrale von Reims.
Fritz Schenk, das Kommunikations-Genie
Dass der Präsident den letzten Akt seiner Deutschlandreise in Ludwigsburg inszenieren ließ, habe man vor allem Fritz Schenk zu verdanken, dem ersten Leiter und Mitbegründer des dfi im Jahr 1948, erklärt Frank Baasner. Der frankophile Schenk sei ein Kommunikationsgenie gewesen. Er hatte die Chuzpe, direkt an Außenminister Couve de Murville zu schreiben. Was diplomatisch eigentlich unmöglich gewesen sei, weil er zuerst die französische Botschaft hätte kontaktieren müssen.
Couve de Murville war zuvor Botschafter in Deutschland gewesen und in dieser Zeit einige Male am dfi. Die richtigen Kanäle waren also angezapft. Im Élysée war man mit Ludwigsburg einverstanden.
„Nicht nur wegen des schönen Schlosses, sondern auch weil wir das erste dfi in der Bundesrepublik hatten und 1950 die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft“,
sagt Baasner.
Mit Eloquenz und Grandeur schreitet de Gaulle mit Bundespräsident Lübke im Südgarten des Schlosses noch eine Militär- und Polizeiparade ab. Seine Mission ist erfolgreich beendet. Ohne ein Abendessen geht es in einem geschlossenen Wagen direkt zum Flughafen Echterdingen, wo er eine Maschine nach Paris nimmt.
In die hohen freien Lüfte
Wie sehr de Gaulle der Anschlag vom August noch im Bewusstsein war, beweist ein Brief, den er am Tag nach seiner Rückkehr aus Deutschland an seine Schwester Marie-Agnès schreibt:
„Normalerweise hätte das Attentat allen vier Insassen des Wagens das Leben gekostet.“
Er danke Gott dafür, dass er seine Frau Yvonne, seinen Schwiegersohn Alain de Boissieu und den tapferen Chauffeur verschont habe.
Die Deutschlandreise sei „unglaublich“ gewesen, schreibt er weiter. Überall, wo er gewesen sei, habe „ein Wettbewerb des Enthusiasmus“ stattgefunden. Man werde noch lange von dieser „Art Explosion“ berichten.
„Auf jeden Fall ist das Ansehen Frankreichs dadurch enorm gestiegen.“
Text von Günter Scheinpflug